
Am Tag der Kapitulation Nazi-Deutschlands, die weltweit als Sieg der Alliierten gefeiert wurde, begann in Algerien eine der schlimmsten Tragödien der französischen Kolonialzeit. In den Städten Sétif, Guelma und Kherrata wurden Zehntausende von Algeriern, die für ihre Unabhängigkeit demonstrierten, von französischen Truppen und Siedlermilizen brutal niedergemetzelt. Die Ereignisse, die als Massaker von Sétif, Guelma und Kherrata in die Geschichte eingingen, markieren einen Wendepunkt im algerischen Befreiungskampf.
Am 8. Mai 1945 versammelten sich etwa 5.000 bis 10.000 Algerier in Sétif, um für die Freilassung des Nationalistenführers Messali Hadj und die Unabhängigkeit ihres Landes zu demonstrieren. Viele trugen algerische Fahnen und Transparente mit der Forderung nach Gleichberechtigung – Symbole, die unter der französischen Kolonialherrschaft verboten waren. Als französische Gendarmen versuchten, diese Transparente zu beschlagnahmen, eskalierte die Situation. Schüsse fielen, Unruhen brachen aus, bei denen etwa 102 europäische Siedler, die sogenannten Pieds-Noirs, getötet wurden.
Die französische Regierung reagierte mit unverhältnismäßiger Gewalt. Unter dem Kommando von General Raymond Duval führten Kolonialtruppen, unterstützt von Marine, Luftwaffe und bewaffneten Siedlermilizen, eine groß angelegte Vergeltungsaktion durch, die mehrere Wochen andauerte. Dörfer wurden bombardiert, Zivilisten wahllos erschossen und in Guelma Leichen in Kalköfen verbrannt, um die Spuren der Massaker zu verwischen. Algerische Zivilisten wurden gezwungen, sich vor der französischen Flagge zu erniedrigen, bevor viele von ihnen hingerichtet wurden. Bis zu 45.000 Algerier wurden ermordet.
Vor allem in Guelma spielten französische Siedlermilizen eine zentrale Rolle. Mit Duldung der Behörden griffen sie gezielt Zivilisten an. Historiker wie Jean-Louis Planche sprechen von einem „Politizid“, da die Opfer oft wegen ihres Engagements für die Unabhängigkeit ausgewählt wurden. Die Milizen gingen mit äußerster Grausamkeit vor, was die Spannungen zwischen der algerischen Bevölkerung und den französischen Kolonialherren verschärfte.
Die Massaker von 1945 gelten als Auslöser des Algerienkrieges (1954-1962), der schließlich zur Unabhängigkeit Algeriens führte. Sie radikalisierten die algerische Bevölkerung und machten den Bruch mit der Kolonialmacht unumkehrbar. In Algerien wird der 8. Mai bis heute als Gedenktag für die Märtyrer begangen. Das „Stade du 8 Mai 1945“ in Sétif und eine Gedenkmünze von 1975 zeugen von der Bedeutung dieser Ereignisse.
Frankreich schwieg lange zu den Massakern. Bis in die 1960er Jahre wurden die Ereignisse in der französischen Öffentlichkeit zensiert. Erst 2005 bezeichnete der französische Botschafter in Algerien, Hubert Colin de Verdière, die Massaker als „unentschuldbare Tragödie“. Präsident François Hollande erkannte 2012 die Leiden der algerischen Bevölkerung an und Emmanuel Macron bezeichnete 2017 den Kolonialismus als „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“. Dennoch fordern viele Algerier und Historiker eine umfassende Aufarbeitung und Entschuldigung.
Ein Mahnmal der kolonialen Unterdrückung
Die Massaker von Sétif, Guelma und Kherrata bleiben ein Symbol für die Brutalität der Kolonialherrschaft und die tiefen Wunden, die sie hinterlassen hat. Sie erinnern daran, wie weit die Kolonialmächte gingen, um ihre Herrschaft aufrechtzuerhalten, und wie hoch der Preis war, den das algerische Volk für seine Freiheit zahlen musste.
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