Netanjahus lange Geschichte der Behauptung, der Iran stehe „kurz davor“, eine Atombombe zu besitzen

Seit über 30 Jahren warnt der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu, dass der Iran „kurz davor“ stehe, eine Atombombe zu entwickeln. Doch trotz dramatischer Reden, tickender Uhren und sogar eines Cartoon-Bomben-Diagramms bei der UNO hat der Iran bis heute keine Atomwaffe entwickelt. Was in den frühen 1990er-Jahren als ernsthafte geopolitische Sorge begann, gleicht mittlerweile einem politischen Ritual, das immer dann auftaucht, wenn Netanjahu militärische Aggressionen rechtfertigen, internationale Verbündete gewinnen oder von den eigenen Handlungen Israels ablenken will.

Im Folgenden ein Überblick über Netanjahus Warnungen vor einer iranischen Atombombe im Laufe der Jahre und die Ereignisse rund um die israelischen Luftangriffe im Jahr 2025, bekannt als „Operation Rising Lion“.

Chronologie der Warnungen

1992: Der Countdown beginnt
In einer Rede vor der Knesset warnte Netanjahu, dass der Iran „drei bis fünf Jahre“ davon entfernt sei, eine Atombombe zu entwickeln. Fünf Jahre später? Keine Bombe.

1995: In Buchform
In seinem Buch Fighting Terrorism bekräftigte Netanjahu: „Die besten Schätzungen sehen den Iran in drei bis fünf Jahren in der Lage, die Voraussetzungen für die unabhängige Herstellung von Atomwaffen zu erfüllen.“ Die Vorhersage zielte auf das Jahr 2000 ab, doch das neue Jahrtausend begann ohne ein militärisches Atomprogramm des Irans.

1996: Vor dem US-Kongress
Netanjahu warnte: „Wenn der Iran Atomwaffen besäße, könnte dies katastrophale Folgen haben.“ In den frühen 2000er-Jahren blieb das iranische Atomprogramm jedoch stark überwacht und Inspektoren stellten keine aktive Waffenentwicklung fest.

2002–2005: Erst der Irak, dann der Iran
Während der Vorbereitungen für die US-Invasion im Irak unterstützte Netanjahu den Regimewechsel unter dem Vorwand, der Irak besitze Massenvernichtungswaffen. Der Iran blieb zunächst im Hintergrund, doch Warnungen vor seinem Atomprogramm tauchten gelegentlich auf. Keine Atomwaffen, aber viele Schlagzeilen.

2009–2012: Die Cartoon-Bombe
Im Jahr 2012 präsentierte Netanjahu vor der UN-Generalversammlung ein Diagramm in Form eines Cartoon-Bomben: „Bis nächsten Frühling, spätestens nächsten Sommer, werden sie die mittlere Anreicherung abgeschlossen haben … Nur noch wenige Monate, vielleicht Wochen, bis sie genug angereichertes Uran für die erste Bombe haben.“ Das Bild ging viral, doch die „rote Linie“ wurde nie überschritten.

2015: Der „historische Fehler”
Als der Iran den Gemeinsamen Umfassenden Aktionsplan (JCPOA) unterzeichnete, lehnte Netanjahu ihn ab: „Dieses Abkommen ebnet dem Iran den Weg zur Bombe.“ US-, EU- und UN-Inspektoren stellten jedoch fest, dass das Abkommen das iranische Atomprogramm erheblich verlangsamte.

2020er-Jahre: Wieder am Abgrund
Nach seiner Rückkehr ins Amt im Jahr 2022 belebte Netanjahu seinen Lieblingsspruch wieder: „Der Iran steht kurz vor einem nuklearen Durchbruch.“ Wochen wurden zu Monaten, dann zu Jahren – wieder einmal.

2025: Operation Rising Lion
Am 13. Juni 2025 startete Israel unter dem Codenamen „Operation Rising Lion” Luftangriffe auf iranische Ziele, darunter die Atomanlage Natanz. Netanjahu behauptete, der Iran habe genug angereichertes Uran für „neun bis fünfzehn Atombomben” und stehe kurz davor, eine Waffe zu produzieren. US- und IAEA-Berichte bestätigten jedoch nicht öffentlich, dass der Iran aktiv an einer Bombe arbeitet.

Ein Muster mit Absicht?

Nach über drei Jahrzehnten ähnlicher Warnungen sehen viele Beobachter in Netanjahus nuklearen Alarmglocken breitere politische und militärische Ziele. Statt auf eine unmittelbare nukleare Bedrohung zu reagieren, könnte seine Kampagne folgende Zwecke verfolgen:
Regionale militärische Dominanz: Die Schwächung des Irans sichert Israels militärische Überlegenheit im Nahen Osten.

Rechtfertigung von Angriffen: Präventivschläge und militärische Kampagnen werden als notwendige Verteidigung dargestellt.

US-Unterstützung: Die Bedrohung durch den Iran mobilisiert politische und finanzielle Unterstützung der USA.
Ablenkung: Israels eigenes, nicht deklariertes Atomwaffenarsenal (geschätzt auf 80–90 Sprengköpfe) gerät aus dem Fokus.

Politische Überlebensstrategie: Kritiker werfen Netanjahu vor, Konflikte zu nutzen, um seine Regierungskoalition zu stabilisieren und von Korruptionsvorwürfen abzulenken.

Der Nahost-Analyst Liqaa Maki sagte: „Das Ziel war von Anfang an nicht nur das iranische Atomprogramm, sondern der Iran als Staat und sein Regime. Die nukleare Akte ist nur ein Vorwand. Das wahre Ziel ist ein geschwächter und gespaltener Iran als Teil eines ‚neuen Nahen Ostens‘.“

Reaktionen und Konsequenzen
Die Angriffe im Juni 2025, die laut Netanjahu dazu dienten, „die iranische Bedrohung zurückzudrängen“, führten zu erheblichen Schäden an der Atomanlage Natanz, töteten mehrere iranische Militärführer und Wissenschaftler und lösten iranische Vergeltungsangriffe aus (Operation „Wahres Versprechen III“). Der Iran bestreitet weiterhin, Atomwaffen zu entwickeln, während die IAEA feststellte, dass der Iran seine Verpflichtungen aus dem Nichtverbreitungsvertrag verletzt habe, ohne jedoch Beweise für ein aktives Waffenprogramm zu liefern.

Kritiker auf Plattformen wie X wiesen darauf hin, dass Netanjahus Warnungen seit 1992 nie eingetroffen seien und als „politisches Märchen“ dienten, um militärische Aktionen zu rechtfertigen. Andere Stimmen, insbesondere Netanjahu selbst, betonten, dass die Operation ein notwendiger Präventivschlag war, um Israels Überleben zu sichern.

Netanjahus mehr als 30-jährige Warnungen vor einer iranischen Atombombe haben keinen Beweis für eine unmittelbare nukleare Bedrohung erbracht, aber sie haben wiederholt militärische Eskalationen begleitet – zuletzt mit der „Operation Rising Lion“ im Juni 2025. Während Israel behauptet, aus Selbstverteidigung zu handeln, sehen Kritiker ein Muster der Übertreibung, das politischen und strategischen Zielen dient. Die Frage bleibt: Dient die iranische „Bombe“ als reale Gefahr oder als dauerhafter Vorwand für einen Konflikt, der weit über das Atomprogramm hinausgeht?

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