Seit dem 11. September 2001 hat sich vieles in der Welt geändert. Mehrere Kriege wurden mit unterschiedlichen Koalitionen gegen muslimische Länder geführt, die Verschärfung der Sicherheitskontrollen an Bahnhöfen und Flughäfen wurde immer weiter ausgebaut und auch in Form von Gesetzen wurde vermeintlich versucht, den Terrorismus präventiv zu bekämpfen. Während es aber augenscheinlich um den Terrorismus ging, wurde dieser schon bald darauf in zahlreichen Publikationen von Politik und Medien als „islamistischer Terrorismus“ präzisiert. Der Islamismus ist ein Begriff, der für sämtliche der darauffolgenden Definitionen aufgegriffen und mit unterschiedlichsten scheinbar gattungsspezifischen Schlagwörtern des neuen Genres der Geheimdienste zu neuen Bezeichnungen kombiniert werden sollte. Während es für die meisten Menschen in jenen Gesellschaften üblich war, dass sie sich ihren Glauben und ihren Lebensstil selbst aussuchten, musste womöglich keine Gruppe so schmerzlich wie die Muslime einsehen, dass dies der bitteren Realität im tiefsten Sinne widersprach. So wurden alle kompromisslos praktizierenden Muslime vor die Wahl gestellt, sich für mindestens eine der vorgegebenen Kategorien auf dem Markt zu entscheiden: Islamisten, radikale Islamisten, gewaltbereite Islamisten, salafistische Islamisten, extremistische Islamisten und viel mehr. Manchmal wurde bloß die Reihenfolge geändert. Statt „extremistischer Islamismus“ hieß es dann „islamistischer Extremismus“.
Zentral ist dabei der Begriff des sogenannten Islamismus. Auch wenn es hierfür keine einheitliche Definition gibt, tendieren die meisten Beschreibungen in eine bestimmte Richtung. Dabei wird dem Islamismus verschuldet, dass Muslime aus diesem Spektrum eine Staats- und Gesellschaftsordnung gemäß dem Quran nach dem Vorbild des Propheten Muhammads (saw) anstreben würden. Dies sei eine radikale Ideologie, die mit dem Geist der heutigen Zeit und den damit verbundenen Werten in modernen Gesellschaften nicht vereinbar wäre, wobei die Widersachlichkeit zur Demokratie und dem Säkularismus besonders stark hervorgehoben wird. Muslime, die also den Islam auf alle Bereiche des Lebens übertragen möchten und die islamischen Quellen allein für ihre Lebensordnung als gültig, relevant und unantastbar heilig erachten, stellten somit eine Gefahr für das Fortbestehen der pluralistischen Gesellschaften dar, in denen die Koexistenz verschiedener Religionen sowie ihre freie Ausübung jedem gewährleistet würden. Je nach dem, wie gewaltbereit sich ein Muslim für die Verwirklichung dieser Ziele einsetzte, wurde er umbenannt zu einem „Islamisten“ der passenden Gattung. Mit der Zeit erwiesen sich aber auch diese Kategorien als lückenhaft. Denn es gab immer noch genug Muslime, die Allah zum einzigen Ilah, also zur einzigen und vollkommenen Autorität über die gesamte Schöpfung erklärten (siehe Glaubensbekenntnis im Islam) und für die Verbreitung dieses Glaubens einstanden, dabei aber Provokation und Widerstand nicht mit Gewalt und Terror, sondern mit Aufklärung und Einladung entgegneten. Sie wussten sich von Terroristen zu unterscheiden, aber gleichzeitig den Islam über alles andere in ihrem Leben zu stellen und passten somit nicht mehr in das klischeehafte Bild eines Selbstmordattentäters, der willkürlich Zivilisten ins Visier zu nehmen schien. Daraus ergab sich für manche Verfassungsschützer offensichtlich wieder die Notwendigkeit für eine neue Bezeichnung: Legalistische Islamisten.
Legalistische Islamisten sind laut dem Verfassungsschutz Muslime, die die Errichtung einer islamischen Zivilisation anstrebten, sich dabei aber im Rahmen der Gesetze bewegten. Mit anderen Worten wären es demnach alle Muslime, die sich von jeglicher Kriminalität und illegalen Machenschaften fernhalten, aber durch Dialog und Aufklärung für die Verbreitung ihres sogenannten islamistischen Gedankenguts einsetzen. In letzter Zeit führten einige Zeitungsartikel zu diesem Thema zu manchen Unstimmigkeiten in der deutschen Bevölkerung. Unabhängig davon, wer den Islam oder Islamismus wie definiert, war eine Frage nicht mehr zu umgehen: Inwiefern hat der Staat gegen einen Teil seiner eigenen Bürger vorzugehen, die keine Gesetze übertritt?
Nach ihrer Gründung galt die Bundesrepublik in der Weltöffentlichkeit jahrzehntelang als das Vorzeigemodell für eine vorbildliche Demokratie in der modernen Zeit. Insbesondere durch die Freiheiten, die sie ihren Bürgern versprach, gelangte sie zu einem gewaltigen Ruhm. So sehr, dass sogar Muslime begannen, sich von der Regentschaft in ihren Heimatländern, in denen der Islam für egoistische Zwecke von den dortigen Diktatoren missbraucht wurde, zur Bundesrepublik zu fliehen. Und dies, obwohl ihr Glaubensbekenntnis (Kalima at-Tauhid) zum Prinzip eines Systems wie der Demokratie, in dem nicht der Schöpfer und Herrscher über das Universum, sondern die Menschen alle Gewalt über die anderen Geschöpfe innehaben, absolut im Widerspruch steht. Meinungsfreiheit, Religions- sowie Bekenntnisfreiheit und sogar das Recht auf freie Religionsausübung – Grundrechte, die der Quran und der Prophet (saw) vor über 14 Jahrhunderten schon gewährleisteten, waren seit dem Zerfall der islamischen Zivilisation in den letzten Jahrhunderten längst in Vergessenheit geraten und in den mehrheitlich muslimisch bevölkerten Ländern nur noch zu einem Märchen geworden. Man vergaß, wo sie herkamen und dachte beinahe, die westliche Zivilisation hätte sie selbst entwickelt, als sie diesen Grundsätzen der Menschlichkeit teilweise einen Platz in ihre Verfassungen gewährte. Doch in den letzten Jahren scheinen gewisse Einflussträger in Politik und Gesellschaft eben diese Freiheiten als zu viel zu empfinden. Immer häufiger werden Versuche unternommen, Scheindebatten über die angebliche Gefährlichkeit sogenannter legalistischer Islamisten anzuregen. Und dabei wird meist keine Gelegenheit ausgelassen, um an die Verantwortung des Staates im Hinblick auf die Ausbreitung des vermeintlich islamistischen Gedankenguts zu appellieren. Dieser soll nämlich verhindern, dass mit der Zeit mehr und mehr Menschen jene Überzeugung vertreten, dass nicht Menschen über andere Menschen bestimmen sollten. „Wir gehen davon aus, dass dieser legalistische Islamismus gefährlicher als Salafismus oder gewaltbereiter Extremismus ist“, behauptet Burkhard Freier, der den Verfassungsschutz in Nordrhein-Westfalen leitet. Das eigentliche Problem scheint also im Wort „legalistisch“ zu liegen. Das heißt, dass diese Muslime sich im Rahmen der Gesetze für ihre Ziele einsetzen und sie nicht übertreten. Sie handeln somit stets legal und versuchen mit verfassungskonformen Methoden, ihre Vorstellungen von richtig und falsch mit ihren Mitmenschen zu teilen. Vor dem Hintergrund der Definition der Begriffe „legalistisch“ und „Islamismus“ lassen sich also alle Leute, die sich zum Islam bekennen, weil sie Allah für den einzigen Ilah halten, unter dieser Kategorie zusammenfassen, da die meisten Muslime sich auch laut Verfassungsschutz friedlich und legal verhalten. Das lässt den Verdacht nicht von der Hand weisen, ob manche Scharfmacher nicht alle Muslime unter Generalverdacht gestellt sehen möchten. Auch fehle es an der „Stigmatisierung durch die Gesellschaft“, so Freier.
Liest man Artikel wie „‘Legalistischer Islamismus‘ – die neue Gefahr“ von der Tagesschau, versteht man auch, welche Art von Stigmatisierung gemeint sein könnte. Im besagten Artikel werden manche Gemeinschaften, denen eine „legalistisch-islamistische“ Haltung vorgeworfen wird, repräsentativ für die besagte Strömung erwähnt. Eine von ihnen sei die „Furkan-Gemeinschaft“, die sich für ein zweistündiges Interview mit dem SWR und BR bereit erklärte, um sich zu den schwerwiegenden Vorwürfen zu äußern. Ausgestrahlt wurden jedoch lediglich vier Sätze, in denen es unter anderem um die Haltung zu „drakonischen“ Körperstrafen ging, die im Interview ebenfalls gefragt wurde. Eine andere Gruppe, welche ebenfalls haltlos angegriffen wird, nennt sich „Realität Islam“, die eine stark geschnittene Veröffentlichung ihres Interviews befürchtet haben mag. So bestand sie darauf, die zur Veröffentlichung gedachten Stellen des Interviews vor ihrer Veröffentlichung lesen zu dürfen. Da diese Bedingung aber nicht erfüllt wurde, lehnte sie das Interview ab.
Angesichts der fehlenden Bereitschaft für Dialog und Verständigung fühlen sich viele Muslime ungerecht behandelt. Die Zahl unter ihnen, die die einseitige und auf seltsame Weise übereinstimmende Berichterstattung seitens staatlicher Behörden und privater Medien für einen Baustein einer großangelegten und zentral gesteuerten Hetzkampagne hält, nimmt von Tag zu Tag zu. So finden sich in den sozialen Netzwerken mittlerweile viele Kommentare zu diesem Thema, in denen die betroffenen Menschen, nämlich die Muslime selbst, sich eigenständig zu Wort melden. Auch die Stellungnahme zum Interview beim BR auf der Seite „Furkan Gemeinschaft Hamburg“ wurde vielfach von Muslimen kommentiert, die sich ihres Glaubens und Lebensstils wegen diskriminiret fühlen. Die Kritik richtet sich insbesondere gegen den Verfassungsschutz, der den Eindruck erweckt, als fordere er indirekt, dass Muslime, denen er den sogenannten legalistischen Islamismus vorwirft, vor dem Gesetz nicht gleichbehandelt werden sollten. Demnach warnt eine Nutzerin mit folgendem Kommentar: „Jeder vernünftige Mensch sollte spätestens ab jetzt merken, was für eine unterschwellige Politik gegen eine religiöse Gruppe hier taktisch geführt wird. Dieser neue Begriff zeigt nur noch, wie weit sie gehen können, um Muslime als „gefährlich“ darzustellen. […]“.
Als IslamicNews sind wir uns unserer doppelten Betroffenheit und Verantwortung bewusst. Sowohl als Muslime in unserer Verpflichtung gegenüber dem Islam als auch als Journalisten in unserer Verpflichtung gegenüber unseren Mitmenschen sind wir bemüht, der gesellschaftlichen Aufklärung und der friedvollen Verständigung unter allen Muslimen und Nichtmuslimen nachzukommen. Möge Allah seine Religion richtig verstehen und leben lassen. Allahumma amin.
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