Einige Muslime behaupten, dass der Koran zu 100% „wissenschaftlich korrekt“ sei. Es ist leicht zu verstehen, warum Muslime dies sagen. Wissenschaft wird als eine perfekte Darstellung der Realität betrachtet und der Koran ist die Rede desjenigen, der diese Realität geschaffen hat. Daher sollte logischerweise eine perfekte Übereinstimmung zwischen den beiden bestehen.
Das Problem dabei ist jedoch, dass die Wissenschaft keine perfekte Darstellung der Realität ist. Man muss kein kuhnischer Postmodernist sein, um dies zu akzeptieren. Sogar die wissenschaftliche Gemeinschaft erkennt an, dass ein Großteil der Wissenschaft einen vorläufigen, provisorischen Charakter hat, was bedeutet, dass die Wissenschaft sich ständig aktualisiert und weiterentwickelt, wenn neue Erkenntnisse gemacht werden.
Die wissenschaftlich robusteste Theorie, die wir heute haben, ist zum Beispiel die Quantenfeldtheorie (QFT). Dennoch glauben Physiker, dass die QFT entweder völlig falsch oder bestenfalls eine unvollkommene Annäherung an eine vollständigere, genauere Theorie ist (eine, die die Schwerkraft berücksichtigen kann).
Wenige Wissenschaftler, wenn überhaupt, würden heute behaupten, die absolute Wahrheit in ihrem Forschungsgebiet zu kennen. Wissenschaftler mit einer popperianischen Neigung könnten sogar sagen, dass die Wissenschaft die Wahrheit niemals zu 100% erkennen kann, sondern nur konkurrierende Hypothesen entkräftet. Kurz gesagt, die Wissenschaft ist unvollständig und oft falsch. Was Wissenschaftler an einem Tag für eine Tatsache halten, wird am nächsten Tag oft verworfen.
Als konkretes Beispiel glaubten Physiker zu Beginn des 20. Jahrhunderts, dass sich das Universum in einem stabilen Zustand von unendlicher Größe und unendlichen Alters befindet. Erst in den 1930er Jahren begannen Wissenschaftler ernsthaft über eine Urknalltheorie der Entwicklung des Kosmos nachzudenken. Natürlich widerspricht die Idee eines ewigen Universums dem Koran, der einen endlichen Punkt der Schöpfung beschreibt.
Hätten sich die Muslime in den frühen 1900er Jahren beispielsweise dazu entschieden, die relevanten Verse des Korans neu zu interpretieren, um das ewige Steady-State-Modell des Universums, das damals populär war, zu berücksichtigen, hätten sie drei oder vier Jahrzehnte später, als die Urknalltheorie populär wurde, ihre Interpretierung zurücknehmen müssen. Wie können wir also im gleichen Sinne sicher sein, dass die zeitgenössische Wissenschaft, die von einigen dafür benutzt wird, den Koran und die islamische Theologie neu zu interpretieren, nicht auch in drei bis vier Jahrzehnten auf ähnliche Weise verworfen wird. Angesichts der turbulenten Geschichte der Wissenschaft ist dies viel wahrscheinlicher als nicht.
Im Gegensatz zu dem, was manche fälschlicherweise glauben mögen, ist die Wissenschaft letztlich keine perfekte Darstellung der Realität, zumindest nicht heute und möglicherweise auch niemals. Angesichts der Vollkommenheit der Rede Allahs wäre es unangebracht, breite Aussagen über die Vereinbarkeit des Korans mit etwas vom Menschen Geschaffenem wie der Wissenschaft zu machen, die von Natur aus unvollkommen, schwach und ständig im Wandel ist.
Bedeutet dies nun, dass wir nicht über den Koran nachdenken und Verse im Lichte verschiedener Vorstellungen in der Wissenschaft betrachten sollten? Natürlich können wir das. Einige Muslime erleben dadurch sicherlich einen Schub in ihrem Iman, und das sollte auch nicht untergraben werden. Letztendlich geht es jedoch darum, wann diese persönliche Reflexion zu einem Tafsir wird, den man mit anderen teilt oder, schlimmer noch, zu einer umfassenderen Philosophie über „den Koran und die Wissenschaft“ macht. Dies ist problematisch, da die öffentliche Interpretation des Korans wie jede Reflexion über den Koran den etablierten Normen der Exegese folgen sollte. Wir sollten die tiefgreifenden Worte des Gesandten Allahs beachten: „Wer aus eigener Sicht vom Buche Allahs spricht, ist im Irrtum, auch wenn es richtig ist.“ [Abu Dawud, Tirmidhi]
Der Artikel ist von Daniel Haqiqatjou verfasst worden und von uns ins Deutsche übertragen worden. Daniel Haqiqatjou wurde in Houston, Texas, geboren. Er schloss sein Studium an der Universität Harvard mit einem Abschluss in Physik und Philosophie ab. Haqiqatjou schreibt und hält Vorträge zu aktuellen Themen. Er hat an Universitäten und Moscheen in den USA und Kanada Vorträge gehalten und seine Arbeiten wurden in Zeitschriften wie The Washington Post, The Atlantic, CNN, Aljazeera, Public Discourse, Mashable und First Things veröffentlicht.
Original-Artikel auf Englisch: https://muslimskeptic.com/2016/07/24/do-science-and-the-quran-ever-conflict/
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