Während Millionen Menschen in den USA am vierten Donnerstag im November Truthahn servieren, Football schauen und für die Fülle des Jahres danken, wächst zugleich das Bewusstsein für die historische Realität hinter dem beliebten Feiertag. Hinter dem Erntedankfest – im Englischen „Thanksgiving“ – steht nicht nur eine Familienfeier, sondern auch eine Geschichte von Kolonialismus, Gewalt und tiefgreifenden Umbrüchen für die indigenen Nationen Nordamerikas.
Ein Mythos voller Lücken
Die gängige Erzählung geht auf das Jahr 1621 zurück, als Pilger der Mayflower in Plymouth einen dreitägigen Erntedank mit Angehörigen der Wampanoag gefeiert haben sollen. Historiker betonen, dass dieser Kontakt zwar stattfand, jedoch kein offizielles „Thanksgiving“ war und keineswegs der Beginn einer dauerhaften Harmonie. Das Treffen geschah in einem fragilen politischen Kontext, geprägt von Seuchen, Machtverschiebungen und pragmatischen Bündnissen.
Epidemien vor Ankunft der Pilger
Bereits Jahre vor der Mayflower-Landung hatten europäische Händler Krankheiten eingeschleppt, gegen die die indigenen Gemeinschaften keine Immunität besaßen. In Teilen Neuenglands starben bis zu 90 Prozent der Bevölkerung. Diese Entvölkerung schuf die Grundlage, auf der europäische Siedler später expansiv Land beanspruchten – oft mit dem Eindruck, es handele sich um „verlassenes“ Gebiet.
Wachsende Spannungen und Landverlust
Mit dem Anwachsen der Kolonien nahmen Landraub, religiöser Druck und politische Kontrolle zu. Für verschiedene indigene Nationen bedeutete dies nicht nur territoriale Einschränkungen, sondern auch zunehmende Repressionen. Viele sahen ihre Autonomie bedroht, während Kolonialverwaltungen immer direkter Einfluss nahmen.
King Philip’s War: Der blutige Wendepunkt
Der Konflikt eskalierte 1675 im sogenannten King Philip’s War. Es wurde einer der verheerendsten Kriege in der frühen Kolonialgeschichte Nordamerikas. Am Ende standen tausende Tote, zerstörte indigene Siedlungen und eine systematische Versklavung überlebender Wampanoag und befreundeter Nationen. Der Krieg markierte die fast vollständige Entmachtung indigener Völker in Neuengland.
Thanksgiving als Siegesfeier
Weniger bekannt ist, dass einer der frühesten amtlich ausgerufenen „Thanksgiving Days“ ausgerechnet nach einem Massaker gefeiert wurde: 1637 proklamierte der Gouverneur der Massachusetts Bay Colony einen Dankestag nach dem Angriff auf ein Pequot-Dorf, bei dem hunderte Menschen – darunter Frauen und Kinder – getötet wurden. Für viele Historiker zeigt dieser Zusammenhang, wie eng der Feiertag in seiner frühen Form mit kolonialer Gewalt verknüpft war.
Ein Tag der Trauer für viele
Heute begehen zahlreiche indigene Organisationen statt des traditionellen Festes den National Day of Mourning. Seit 1970 versammeln sich Demonstrierende jedes Jahr in Plymouth, um auf historische Ungerechtigkeiten, anhaltenden Landverlust und gebrochene Verträge aufmerksam zu machen. Für sie steht Thanksgiving nicht für Harmonie, sondern für die Erinnerung an kulturelle Zerstörung und Überlebenskampf.
Ein moderner Feiertag – ein schwieriges Erbe
Obwohl das heutige Erntedankfest in seiner modernen Form hauptsächlich eine zivile Tradition ist, wächst die Forderung, die Geschichte dahinter differenzierter zu erzählen. Schulen, Museen und Aktivistengruppen bemühen sich zunehmend darum, indigene Perspektiven sichtbar zu machen und den kolonialen Kontext klarer zu benennen.
Während die Gerüche von gebratenem Truthahn und Pumpkin Pie durch amerikanische Küchen ziehen, bleibt die Frage aktuell, wie eine Nation ihr eigenes Geschichtsbild hinterfragen kann – und wie ein Tag des Dankes zugleich ein Raum für Erinnerung, Anerkennung und Versöhnung werden könnte.
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