Die Zukunft des Islams in Europa – ein Interview mit Yalcin Icyer (Teil 1)

Islamicnews.de ist ein Nachrichtenportal von Muslimen für Muslime und hat sich zum Ziel gesetzt, über die Situation der Muslime weltweit zu berichten, auf dass wir einander bewusst werden und eine Brücke zueinander bauen. Auch berichten wir insbesondere von relevanten Nachrichten von und über uns Muslime hier in Deutschland und besuchen an verschiedenen Orten muslimische Persönlichkeiten, um sie kennenzulernen und um ihnen eine Stimme zu geben.

So haben wir einen bekannten Imam und Lehrer aus Essen, Herrn Yalcin Icyer besucht und ein Interview mit ihm über die Situation der Muslime und was die Muslime in dieser Situation tun müssen, geführt. Es war ein angenehmer und lehrreicher Abend und wir möchten Ihnen dieses Interview nicht vorenthalten. Es waren insgesamt sechs Fragen, wir werden die nächsten Wochen immer jeweils zwei Fragen veröffentlichen.

Islamicnews: Herr Icyer, erstmal herzlichen Dank dafür, dass Sie uns heute hier empfangen haben und uns Zeit geben für das Interview. Können Sie sich am Anfang unseres Interviews vielleicht kurz vorstellen? Was für islamische Tätigkeiten führen Sie in Deutschland durch?

Yalcin Icyer: Alles Lob gebührt Allah, dem Herrn der Welten. Frieden und Segen seien auf dem edlen Gesandten Muhammed. Ich bedanke mich ebenfalls bei euch Geschwistern für das Interview und euren herzlichen Besuch als Islamicnews.

Zu meiner Person:

Immer, wenn mich jemand nach meiner Person fragt kommen mir folgende Verse in den Sinn:

Sprich: Zweifellos gehören mein Gebet, meine Gottesdienste, mein Leben und mein Tod einzig Allah, dem Herrscher der Welten. Er hat keinen Teilhaber. So ist es mir befohlen worden und ich bin der Erste der Gottergebenen.“ (Sure Al-En´am : Verse 162 – 163)

Das sind die Aussagen der Propheten gewesen. Ich wünschte, wir könnten dies genauso von uns behaupten. Wer über mein Leben mehr erfahren möchte, kann dies aus meinem Buch tun: „Bir Hayırda Yarışmanın İlkeleri “ – Auf deutsch: „Prinzipien beim Wetteifern für gute Taten“

Ich bin in Batman (TR) im Jahre 1953 geboren. Mein Vater war Lehrer und hat deswegen uns stets zum Lesen und zum Studieren animiert. In meiner Abiturzeit habe ich angefangen arabisch zu lernen, den Qur´an und die Werke von Sayyid Qutb, Hasan al Benna und Ebu´l Ala´ al-Maudidi zu lesen. Erst danach habe ich überhaupt angefangen, ein bewusster Muslim zu sein. 1973 habe ich in Ankara begonnen Islamwissenschaften zu studieren. Zeitgleich studierte ich in einer Madrasa (islamische Schule) und verfeinerte meine Arabischkenntnisse. Nach meinem Universitätsabschluss habe ich angefangen in Ankara als Lehrer zu arbeiten. Nach dem Putsch im Jahre 1980 wurde ein Schwur für Beamte zur Pflicht, welchen ich als „Glaubensbekenntnis“ bezeichne. Dort schwor man auf den Kemalismus, die Demokratie und die Republik und ihre Werte. Aus Überzeugung, dass dieser Schwur Schirk (Allah etwas beigesellen) wäre, habe ich den Dienst als Lehrer quittiert und gekündigt. Im Anschluss musste ich meinen Wehrdienst leisten. In der Zeit habe ich dort meine islamischen Tätigkeiten fortgesetzt, bekam aufgrund dessen Probleme und sogar eine Gefängnisstrafe, welche dann doch in eine Geldstrafe geändert wurde. Ich lernte im Wehrdienst Geschwister aus Deutschland kennen und diese luden mich nach dem Wehrdienst nach Deutschland ein. Ich folgte ihrer Einladung, begann sogar an der Dortmunder Universität Germanistik zu studieren, jedoch wurde mein Studium von Seiten des türkischen Bildungsministeriums unterbrochen und mein Recht auf das Studium genommen. Dies tat man, weil auf mich in der Türkei Anklagen, Gerichtsverfahren und eine mögliche Haft, aufgrund meiner islamischen Tätigkeiten, warteten. Ich beantragte Asyl. Dieser wurde mir gewährt. Man empfiehl mir aufgrund meiner kurdischen Wurzeln den Asylantrag wegen der damaligen Verfolgung der Kurden zu beantragen, da diese Anträge damals immer angenommen wurden, jedoch hatte ich kein Problem aufgrund meiner Wurzeln, sondern wegen meiner islamischen Identität und der islamischen Ideen, die ich als Muslim vertrete. Ich habe mich geschämt und hätte mich so gefühlt, als hätte ich meine Religion für einen Asylantrag verkauft. Ich wollte ein ehrlicher und treuer Muslim gegenüber Allah und seinem Gesandten sein und stellte die Sache klar. Mit Allahs Hilfe wurde mein Asylantrag trotzdem bewilligt. Ich konnte 17 Jahre nicht in die Türkei einreisen und lebte deswegen fünf Jahre von meiner Frau und meinen Kindern getrennt. Zu Beginn meiner islamischen Tätigkeiten in Deutschland habe ich in der Moschee von Cemaleddin Kaplan islamische Dienste geleistet. Nachdem Cemaleddin Kaplan sein Kalifat in Deutschland ausrief, habe ich auch dort meine Tätigkeiten beendet, mich von ihnen getrennt und einen Verein im Jahre 1990 unter dem Namen „Dienste an den Menschen“ gegründet. Seitdem sind wir hier aktiv in Deutschland. Ich habe insgesamt ca. 80 – 90 Werke, welche teils auch gedruckt und verlegt wurden, geschrieben.

Ziele in meinem Leben:

Ich habe mir zwei Sachen als Ziele in meinem Leben gewählt:

  1. Ein aufrichtiger, ehrlicher Muslim zu sein.
  2. Meine Dienerschaft gegenüber Allah zu erfüllen und den Menschen dienstlich sein.

Dafür sind zwei Dinge sehr wichtig:

  1. Lesen
  2. Aktivitäten

Deshalb habe ich diese zwei Dinge, also das Lesen und die Aktivitäten (für Allah und im Dienste an die Menschen) immer versucht zu leben, um damit das Gelesene mit meinem Leben bezeugen zu können. Ich lese in drei Sprachen: deutsch, türkisch und arabisch. Lehren, schreiben und helfen waren bzw. sind meine dauerhaften Tätigkeiten. „Dienste an den Menschen“ hieß unser erster Verein, den wir gründeten. Ich habe mich mit den Problemen der Menschen befasst. Mein größtes Interessengebiet waren bzw. sind die Jugendlichen. Meine Dienste waren vorrangig an diese Altersgruppe gerichtet. Auch unsere heutigen Dienste befinden sich immer noch in diesem Rahmen.

Jeder Muslim sollte den (Fußstapfen der) Gesandten folgen. Er verrichtet Dienste für den Schutz seiner Gesellschaft. Er muss alles Notwendige tun, um folgende Punkte der Gesellschaft und damit jedes Individuums zu schützen:

  1. Schutz des Verstandes
  2. Schutz des Lebens
  3. Schutz der Religion
  4. Schutz der Würde
  5. Schutz des Besitzes

Der Muslim muss für die Erreichung dieser fünf Dinge mit seinen Händen, seiner Zunge und seinem Stift arbeiten.

Islamicnews: Sie sind jemand, der hier seit Jahren unterschiedlichste Dienste am Islam geleistet hat. Wie beurteilen Sie die aktuelle Situation und die Zukunft der Muslime in Europa?

Yalcin Icyer: „Ja, ich bin seit 32 Jahren hier in Deutschland. Und ich beobachte die Muslime und möchte hier an dieser Stelle zwei allgemeine Schwächen der Muslime betonen: Erstens, wir kennen den Islam nicht, und schaffen es nicht, den Islam zu repräsentieren. Es gelingt uns nicht, Zeugen des Islams zu sein, wie ich es nenne. Und so stellen wir ein Hindernis für den Islam dar. 17 Jahre lang haben wir in der Innenstadt regelmäßig Info-Zelte aufgebaut, um den Islam vorzustellen. Und die Aussage, die wir am meisten gehört haben, war: „Die Muslime sind aber nicht so.“ oder „Ach wirklich, ist das so? (Wir wussten es nicht)“.

Die zweite Sache ist, dass wir uns nie als Teil der Gesellschaft gesehen haben. Wir haben uns als Fremde gesehen (daher nicht für die Gesellschaft verantwortlich gesehen). Deswegen haben wir uns nie in diese Gesellschaft integriert, sind nie ein Teil der Gesellschaft geworden. Wir beerdigen unsere Toten immer noch nicht hier. Oder zum Beispiel auch das Thema der Sprache: Die Sprache dieser Gesellschaft ist Deutsch. Aber die Muslime haben Probleme in allen Bereichen dieser Sache. Ich sage nicht, wir sollen unsere Muttersprache vergessen, diese nicht lernen und sie vernachlässigen. Aber wie viel verstehen die heutigen Jugendlichen von den Sitzungen oder Predigten in den Moscheen? In unserem Verein ist die Bildungssprache Deutsch. Und so entsteht eine multikulturelle Gemeinschaft. Natürlich ist die Haltung der Gesellschaft uns gegenüber, ein Problem, was man separat bewerten und beurteilen muss. Aber trotzdem hat sich der Islam allgemein in der Welt und speziell in Europa verbreitet.

Ich sehe immer positiv in die Zukunft: Diese Epoche wird das Zeitalter der Rettung der Menschheit. Die Menschheit hat in ihrer Geschichte noch nie einen solchen Werteverlust erlebt. Selbst westliche Denker und Autoren geben dies zu. So sagt der Historiker Arnold J. Toynbee: „Der Westen hat der Menschheit keine Werte mehr zu bieten.“ Die mörderischsten Waffen der Menschheitsgeschichte werden in diesem Zeitalter hergestellt. Sklaverei, Menschenhandel sind auf einem nie dagewesenen Hoch, Drogen, Cyberkriminalität, Kinder, die in jungen Jahren, ja sogar in der Gebärmutter ihrer Mütter bestialisch ermordet werden, Mädchen, die sogar von ihren eigenen Familienangehörigen vergewaltigt und missbraucht werden, u.v.m. All das ist in der heutigen Gesellschaft weit verbreitet. Früher wurden Bücher mit dem Titel „Utopischer Sozialismus“ geschrieben. Heute sind es Bücher mit dem Titel „Utopische Demokratie“. Diese Bücher werden geschrieben, weil diese Systeme nicht umgesetzt werden können. So nimmt der Rassismus, eines der größten Probleme der Menschheit, immer mehr Fahrt auf und verbreitet sich.

Wenn wir uns als Muslime die Worte des Qur’ans, die lauten „Oh ihr Menschen, die schön erschaffen wurden…“, zum Beispiel nehmen und Vorbilder dessen werden, können wir dieser Gesellschaft einen großen Dienst leisten. Und die Menschheit erwartet dies auch. Wenn wir Muslime diese ehrenhafte Aufgabe übernehmen und als gutes Beispiel vorangehen, werden uns in Zukunft sehr gute Zeiten erwarten. Was das angeht, habe ich viele Bücher gelesen.

Folgendes möchte ich noch sagen: Sei es in Europa, sei es auf der ganzen Welt, die Menschheit hat nicht solche Schwierigkeiten, Grausamkeiten und Unterdrückungen gesehen. Allah ist barmherzig zu den Gesellschaften, die das erleiden müssen. Dementsprechend glaube ich, dass die Errettung nah ist. Wir Muslime haben eine sehr große Verantwortung, was diese Sache betrifft. Und diese Verantwortung müssen wir ernst nehmen und erfüllen.

 

Der zweite Teil des Interviews folgt in der nächsten Woche.

 

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