Deutschland: Unwissenheit oder Hetze?

Gewiss gab es kein Ereignis, das die Welt in den letzten Monaten derart geprägt hat, wie das Corona-Virus. Nahezu alle Einrichtungen, die nicht als lebensnotwendig erachtet wurden, mussten geschlossen werden, die Wirtschaft brach zusammen, Staaten wurden lahmgelegt. Wie immer, wenn Verzweiflung und Hysterie die Oberhand in einer Gesellschaft gewinnen, bleiben natürlich auch dieses Mal keine absurden Behauptungen, von Intoleranz geprägten Forderungen aus zweifelhaften Ecken und die Verbreitung volksverhetzender Hasstiraden aus. Und dabei bleibt es nicht immer bei einfachen Posts auf sozialen Netzwerken vonseiten privater Nutzer. Nein, die Scharfmacher schaffen es sogar bis in den Alltagsjournalismus und bedienen sich gängiger Klischees, die in ihrer Systematik kaum von jenen mancher Rechtspopulisten zu unterscheiden sind. Dabei scheint nichts gelegener zu kommen als eine Überschneidung zweier Phasen: Ramadan und Corona.

Die Frage des deutschen Durchschnittsbürgers, warum er sich denn bei so vielen Problemen, die seinen Alltag insbesondere in diesen Zeiten direkt beeinflussen mit einem Thema beschäftigen sollte, das nicht einmal 5% der Gesellschaft betrifft, mag vielleicht durchaus berechtigt sein. Für manche Zeitungen scheint dies aber kein Hindernis dafür darzustellen, die Aufmerksamkeit dennoch in Richtung des Islam zu lenken. So glaubte man vergangene Tage ein Problem entdeckt zu haben, welches die Gläubigen vom Fasten abhalten sollte: Corona.

Demnach benutzten mehrere Zeitungen in ihren Artikeln Überschriften, die auf den ersten Blick wie eine Forderung auf Plakaten bei einer Anti-Islam-Demonstration klingen. „Das Fastenbrechen muss ausfallen“ schreibt der Tagesspiegel in einer Überschrift, sodass man anfangs noch nicht weiß, ob sie die Erwartungen mancher Bürger an die Muslime oder eine traurige, aber unumgängliche Realität für die Muslime widerspiegeln soll. Es ist auch nicht klar, warum das Fastenbrechen anstelle des Fastens ausfallen sollte. Später im Artikel wird die dramatische Formulierung etwas abgeschwächt und es ist nur noch von einem Verzicht auf das Fasten an manchen Orten die Rede. Dennoch wird bis dahin auch nicht eindeutig begründet, warum das Fasten denn ausfallen sollte. Der Autor suggeriert „Probleme“, die die Muslime beträfen, benennt vorerst aber nur die Schließung der Moscheen und den Ausfall von Festessen. Dabei kommt es beim Fasten im Islam in erster Linie darauf an, das Wohlgefallen Allahs zu erlangen, indem man Seinen Willen über den eigenen stellt, der wiederum von menschlichen Trieben bzw. Bedürfnissen abhängig ist. So sehr sich die fastenden Muslime ihres Miteinanders im Monat der Barmherzigkeit und Vergebung also auch erfreuen und diesen zur Auffrischung der zwischenmenschlichen Beziehungen sowie Versöhnung nutzen, schreibt der Islam ihnen primär die Konzentration auf die Erziehung ihrer selbst durch eine intensive und unvergleichliche seelische Reinigung vor, was das Fasten mit allen Gliedmaßen und dem Herzen erfordert. Andernfalls würde man sich bezüglich der Grenzen Allahs nicht wahrhaft „zurückhalten“ oder gar Zügellosigkeit und Ungehorsam gegenüber Allah, seinem Herrn, demonstrieren. Von alledem findet sich im besagten Artikel aber keine Spur. Statt auf Aufklärung liegt hier der Fokus vielmehr auf den angeblichen „gesundheitlichen Risiken“, die das Fasten mit sich bringe. Insbesondere in diesem Jahr würde „der Ramadan von der Furcht vor der weiteren Ausbreitung des Coronavirus beherrscht.“

In einem anderen Artikel wird manchen Fastenden sogar das Vorhaben unterstellt, das Corona-Virus bewusst und gezielt verbreiten zu wollen. Die Volksverhetzung wird schrittweise und systematisch aufgebaut. „Salafisten wollen nicht auf das Fasten verzichten“ lautet der Titel des Artikels, in dem systematisch ein Schwarz-Weiß-Bild erzeugt wird, das nur die Unterscheidung zwischen undefinierten „Salafisten“, die trotz Corona fasten wollen, und vernünftigen moderaten Muslimen, wie beispielsweise den Akademikern der Azhar-Universität, erlaubt. Wieder sind typische Klischees von der Straße mit ausgeschmückten Formulierungen dabei. So wird direkt als Titelbild ein Schnappschuss von Muslimen gewählt, die auf dem Potsdamer Platz während einer islamfeindlichen Kundgebung auf offener Straße beten und dabei traditionell islamisch-kulturelle Kleidung, wie etwa Gewänder und Turbane, tragen. Mit ihrem „radikalen Protest“ scheinen diese die außenstehende Randgruppe der salafistischen „Extremisten“ zu repräsentieren, während alle anderen sunnitischen Muslime durch die vermeintlich „höchste religiöse Autorität“ in Kairo vertreten würden. Das wird in dem Bericht jedenfalls behauptet, in welchem weder klargestellt wird, was die abgebildeten Muslime mit jenen zu tun haben, die das Fasten auch in der Corona-Krise nicht aufgeben möchten, noch begründet wird, warum das Fasten eine größere Corona-Gefahr für die Gesellschaft bedeuten sollte.
Neben der Darstellung loser Behauptungen als handfeste Tatsachen, wie z.B. das Fasten würde das Immunsystem schwächen und die Betroffenen anfälliger für schlimme Folgen im Falle einer Infektion mit dem Virus machen, werden gewisse Volksgruppen, deren hauptsächliches Erkennungsmerkmal das Fasten in der Corona-Zeit wäre, als Außenseiter der Gesellschaft dargestellt, denen alle Gefahren „egal“ wären. Dabei werden ohnehin ins kollektive Gedächtnis eingravierte Bilder von Menschen in Erinnerung gerufen, die bereits als gewaltbereite Extremisten gelten, um bestehende gesellschaftliche Ängste zu rekapitulieren.

Das Schwarz-Weiß-Bild wird allerdings nicht nur in Bezug auf die Allgemeinheit der muslimischen Community verwendet. Auch bei der Stellungnahme zur Herangehensweise der Azhar-Universität wird ein Zitat des Verfassungsschutzes verwendet, das den Eindruck erweckt, die gesamte Universität wäre einer Meinung gewesen und es hätte keine einzige Gegenstimme gegeben. Doch gerade die steht seit dem blutigen Militärputsch in Ägypten im Jahr 2013 unter massivem politischem Druck. Militärchef und aktueller „Präsident“ Abd al-Fattah as-Sisi verlangte mehrmals eine Kooperation der Azhar-Gelehrten mit der Regierung und ließ tausende Oppositionelle seines Landes unschuldig hinrichten oder inhaftieren. Zahlreiche Verbrechen gegen die Menschlichkeit wurden seither begangen, die selbstverständlich auch nicht von Akademikern der besagten Universität angeprangert werden konnten. Im Gegenteil. Der aktuelle „Scheich der Azhar“, Ahmed el-Tayeb, gilt als „treuer Anhänger“ des ehemaligen Präsidenten Hosni Mubarak, der 30 Jahre lang autokratisch über Ägypten herrschte. Nachdem später nach dessen Sturz der demokratisch gewählte Präsident Muhammad Mursi die Regierung bildete, verweigerte el-Tayeb seine Unterstützung bis er nach dessen Sturz schließlich wieder der Regierung des Mubarak-nahen Putschisten as-Sisi einen islamischen Deckmantel geben konnte. Diese Fakten werden vom Autor allerdings ausgelassen und damit wieder eine „Entweder-Oder-Haltung“ des Lesers gefördert. Eine informierende Auskunft darüber, dass Gelehrte im Islam lediglich anhand von Beweisen aus dem Quran und der Sunnah des Propheten eine zeitlich und örtlich beschränkte Rechtsauskunft zu einer bestimmten Fragestellung geben dürfen und diese keine allgemeine Verbindlichkeit für die Gesamtheit der Muslime bedeuten muss und der jederzeit von gleichermaßen studierten und vertrauenswürdigen Gelehrten widersprochen werden darf, ja dass ihre Fatwa nicht einmal eine Gültigkeit haben muss, wäre eine größere Hilfe für westliche Leser gewesen, denen üblicherweise ausschließlich Instanzen, wie die katholische Kirche, als ein entsprechendes Gegenstück zur Azhar-Universität o.Ä. bekannt sind, der von ihren Anhängern bekanntlich deutlich mehr Befugnisse zugesprochen werden.

Als Gegenbeispiel ist der deutlich neutralere Artikel „Wie Muslime Ramadan in Corona-Zeiten begehen“ aus dem NDR nicht zu vergessen, der am Ende sogar fünf interessante Fragen für jeden Muslim sowie Nichtmuslim mit entsprechend kurzen Antworten zum Thema Ramadan enthält. Die Häufigkeit der negativen Beispiele für Artikel über den Islam und ihre maßlosen Übertreibungen gewinnen jedoch leider die Aufmerksamkeit der breiten Masse. Titel, wie beispielsweise „Islamwissenschaftler verlangt Verschiebung des Ramadan“ (oldenburger-onlinezeitung.de) oder „Islam: Geistliche wollen Ramadan wegen Corona aussetzen“ (headtopics.com) sorgten in den letzten Tagen für die Verunsicherung, ob der Ramadan nicht basierend auf den islamischen Quellen wegen der aktuellen Krise verschoben werden könne. Ein solch desinformativer Journalismus begründet heute das Wachstum der islamfeindlichen Haltung in Deutschland wie auch im Ausland, da alle Muslime, die sich solchen mit dem Islam unvereinbaren Forderungen widersetzen als radikal bzw. extrem wahrgenommen werden. Muslime fühlen sich zunehmend missverstanden und in der Debatte um ihre religiösen Angelegenheiten von den präsentierten „Islamexperten/-Wissenschaftlern“ mit einer absoluten Mehrheit nicht vertreten. Sie wünschen sich die sofortige Unterbindung der Hetzpropaganda aller betroffenen Medien, die in der Vergangenheit nicht nur einmal den Nährboden für anti-islamische Terrorakte gegen Muslime begründete. Als Redakteure von Islamic News erhoffen wir uns von den gewissenhaften unter unseren Berufsgenossen und Berufsgenossinnen eine neutrale und aufklärende Haltung im Journalismus, unabhängig davon, welche Bevölkerungsgruppe thematisiert wird.

Hinterlasse jetzt einen Kommentar

Kommentar hinterlassen

E-Mail Adresse wird nicht veröffentlicht.


*